Der Deutsche Jugendliteraturpreis wird als einziger Staatspreis für Literatur seit 1956 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestiftet und jährlich verliehen. Ausgezeichnet werden herausragende Werke der Kinder- und Jugendliteratur.
Von Anfang an war der Deutsche Jugendliteraturpreis auch ein internationaler Preis: Eingereicht werden können neben deutschsprachigen Kinder- und Jugendbüchern genauso Titel fremdsprachiger Autoren – soweit sie ins Deutsche übersetzt wurden.
Eine Kritikerjury, bestehend aus neun erwachsenen Juroren, vergibt den Deutschen Jugendliteraturpreis in den Sparten Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch. Parallel dazu verleiht eine unabhängige Jugendjury den Preis der Jugendjury. Sie besteht aus sechs über die Bundesrepublik verteilten Leseclubs. Die Jurys prüfen die Bücher aus der Produktion des Vorjahres und nominieren davon sechs Titel pro Sparte.
Natürlich findet Ihr die Preisträger bei uns in der Mediathek!
Hard Land
Benedict Wells (Text)
Altersempfehlung des Verlags: ab 15 Jahren
Jurybegründung
Missouri, 1985. Als der 15-jährige Sam in einem alten Kino zu jobben beginnt, bricht für ihn ein Sommer an, der alles verändern wird. Zwischen Popcorn und flimmernden Leinwänden trifft er auf neue Freunde, die ihn aus der Starre des verschlafenen Örtchens Grady befreien und schnurstracks ins Erwachsenwerden katapultieren. Es ist ein Sommer, der ihm die erste Liebe und den ersten Verlust bringt, ein Sommer voller Abenteuer und Schmerz, voller Ängste und neuer Träume. Ein Sommer, der mitsamt seinen Schattenseiten eine Liebeserklärung an die Jugend ist.
Sams Freundin Kirstie erfindet den Begriff „Euphancholie“ als Beschreibung eines Zustands, in dem die Euphorie eines glücklichen Augenblicks von seiner lauernden Vergänglichkeit überschattet wird und melancholisch stimmt – ein Wort, das diesen Coming-of-Age-Roman nicht besser beschreiben könnte: Gleichermaßen verspielt wie melancholisch wirft Hard Land uns in eine Zeit der „99 Luftballons“ und verträumten Sommertage zurück und schafft dabei mit seinen lebendigen und witzreichen Charakteren eine Atmosphäre, die bis zur letzten Seite an Grady und dessen 49 Geheimnisse fesselt.
After the Fire
Will Hill (Text)
Aus dem Englischen von Wolfram Ströle
Altersempfehlung des Verlags: ab 14 Jahren
Jurybegründung
Eine Sekte. Ein Feuer. Das Leben danach. – Moonbeam wächst, von der Außenwelt abgeschottet, in der Basis der Legion Gottes auf. Nach deren gewaltsamer Erstürmung durch die Bundesbehörden und
einem verheerenden Brand, werden Moonbeam und die anderen überlebenden Kinder und Jugendlichen in der Psychiatrie untergebracht, von Therapeuten betreut und vom FBI befragt. Moonbeam öffnet sich
langsam und erzählt von ihrem Leben in der Sekte, an dem sie schon länger zweifelte. Der Weg in die Welt „Draußen“ ist schwer. Geheimnisse, die sie unter keinen Umständen preisgeben möchte,
quälen sie. Immer wieder werden Moonbeams Gedanken in die Erzählung verwoben und Andeutungen gemacht, die langsam ein Gesamtbild entstehen lassen.
Will Hill rückt ein wenig beachtetes, unkonventionelles Thema in den Mittelpunkt. Mitreißend wird auf zwei Zeitebenen erzählt, wie Moonbeam die traumatisierenden Ereignisse zunächst erlebte und
wie sie diese später verarbeitet. Die realistische Darstellung wirkt dabei niemals verharmlosend. Moonbeam ist eine sehr gut durchdachte Figur, man kann ihr Handeln, ihre Gedanken, Ängste und
Zweifel gut nachvollziehen und es lässt sich eine klare Persönlichkeitsentwicklung erkennen. Die relativ einfache, aber eindringliche Sprache von Will Hill hat Wolfram Ströle gekonnt ins
Deutsche übertragen.
Wer ist Edward Moon?
Sarah Crossan (Text)
Aus dem Englischen von Cordula Setsman
Altersempfehlung des Verlags: ab 14 Jahren
Jurybegründung
„Ed war mein Bruder, aber auch so was wie mein Dad und mein bester Freund.“ (S. 96)
Was, wenn dein großer Bruder im Gefängnis sitzt, zum Tode verurteilt wegen einer Tat, von der nicht bewiesen ist, dass er sie begangen hat? Was kannst du tun, wenn das Rechtssystem ihn schon längst für schuldig befunden hat? Musst du dich für immer verabschieden?
Joe Moon, 17, hat seinen Bruder Ed seit zehn Jahren nicht mehr gesehen: Ed wird des Mordes an einem Polizisten beschuldigt und sitzt in der Todeszelle. Sein Hinrichtungstermin rückt näher. Um Ed in diesen letzten Wochen nahe zu sein, reist Joe nach Texas und besucht ihn dort täglich im Gefängnis. Zwischen dem Gefängnisalltag und Erinnerungen an die Kindheit stellen sich nicht nur Joe Fragen nach Schuld und Vergebung, nach dem Wert des Lebens und dem Sinn der Todesstrafe. Auch die Leserinnen und Leser müssen sich damit auseinandersetzen. Die Hinterfragung des Urteils wird sowohl aus Eds Perspektive als auch aus Sicht seiner Angehörigen beleuchtet.
Sarah Crossan gelingt es, dieses ungewöhnliche Thema durch einen außergewöhnlichen Schreibstil überzeugend darzustellen: Die lyrische Form reduziert den gewichtigen Inhalt auf das Wesentliche und bringt die tragischen Umstände atmosphärisch auf den Punkt. Eine Geschichte über die Bedeutung von Familie, über das Abschiednehmen sowie über gesetzliche Willkür, die Leben zerstört. Das Buch ist ergreifend und fesselt bis zur letzten Seite.
Kompass ohne Norden
Neal Shusterman (Text)
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Altersempfehlung des Verlags: ab 15 Jahren
Jurybegründung
Wie fühlt es sich an, wenn man tief im eigenen Kopf verloren ist? Mit viel Mitgefühl und Authentizität erzählt dieser Roman
vom 15-jährigen Caden, einem ganz normalen Teenager. Er ist liebenswürdig und sympathisch, bis sich eines Tages alles verändert und er mehr und mehr
abdriftet.
Zusammen mit seinem Sohn, der selbst von der Krankheit betroffen ist, beschreibt Neal Shusterman Cadens Wahrnehmung und wie es sich anfühlt,
schizophren zu sein. Die Erkrankung wird mit all ihren Auswirkungen gezeigt. Die Sichtweise wechselt zwischen Cadens „realer“ Welt und seinen Wahnvorstellungen. Vor allem am Anfang ist die
Verknüpfung dieser beiden Pole verwirrend und undurchsichtig, doch mit der Zeit kann man sie unterscheiden.
Der Schreibstil ist bedrückend und real. Das Chaos in Cadens Kopf wirkt beängstigend und poetisch zugleich. Es ist erschreckend, was eine
psychische Erkrankung mit dem menschlichen Verstand anstellen kann. Diese Geschichte ist unglaublich wichtig, denn sie zeigt uns, welchen Kampf psychisch kranke Menschen immer wieder
austragen.
Kompass ohne Norden sensibilisiert, macht Mut und klärt auf. Etwas ganz Besonderes
und Einzigartiges.
THE HATE U GIVE
Angie Thomas (Text)
Aus dem Englischen von Henriette Zeltner
Altersempfehlung des Verlages: ab 14 Jahren
Jurybegründung
Starrs Alltag im Schwarzenghetto ist geprägt von Gangkonflikten und der Konfrontation von Schwarzen und Weißen. Sie erlebt diese täglich direkt, da ihre Eltern sie auf eine Privatschule schicken,
die vorwiegend von Weißen besucht wird. Starr ist zerrissen zwischen der „hood“ und der Schule. Die Krise eskaliert, als ihr Freund Khalil von einem weißen Polizisten erschossen wird und sie die
einzige Zeugin des Vorfalls ist. In ihrer Nachbarschaft reagieren die Menschen aggressiv, Unruhen brechen aus. In der Schule kann sich Starr nicht zu dem Vorfall äußern, sie wird mit dem
Rassismus der Mitschüler konfrontiert. Sie muss sich entscheiden und den Mut aufbringen, sich zu bekennen.
Die Protagonistin überzeugt: Starr ist einfach eine normale 16-Jährige – sie will sich amüsieren, kämpft mit Liebeskummer und hat Streit mit Freundinnen und Eltern. Der Leser folgt ihren
Überlegungen, dabei werden die Konsequenzen des Vorfalls bewertet. Starrs Suche nach Identität zeigt sich auch auf sprachlicher Ebene, sie steht erkennbar in einer Welt voller Zerwürfnisse, aber
auch von großer Solidarität und Zusammenhalt. Ihr Mut, Vorurteile und Streitigkeiten zu überwinden, motiviert, das eigene Handeln zu hinterfragen. Angie Thomas thematisiert die aktuelle Frage von
Recht und Gesetz in der Gesellschaft, sie ist nicht nur fokussiert auf die USA, sondern ruft generell zu mehr Zivilcourage auf.
Nur drei Worte
Becky Albertalli (Text)
Altersempfehlung des Verlages: ab 14 Jahren
Jurybegründung
Warum ist „normal“ eigentlich weiß, hetero, christlich? Das fragen sich Simon und seine Internetbekanntschaft Blue. Simon ist homosexuell. Das ist gesetzt. Wie mag sein Umfeld mit einem Outing
umgehen? Und was ist mit der Welt überhaupt los, in der man sich outen muss, nur weil man homosexuell ist? Simon erzählt nachdenklich und schneidet viele Themen wie Sexualität, Herkunft,
Identität, Religion und Freundschaft an. Die E-Mails zwischen ihm und Blue greifen diese auf und setzen sich doch ganz anders damit auseinander. Anonymität, dann Freundschaft und Liebe
ermöglichen einen unverstellten, in jedem Fall humorreichen Schlagabtausch. Problembuch? Nein, aber auch. Liebesgeschichte? Ja, aber nicht nur. Je nach Interesse ist ein Lesen auf verschiedenen
Ebenen möglich. Das Buch macht Spaß, vor allem durch die Referenzen zur Jugendkultur, wie die Liebe zu Harry Potter, die Nutzung von Tumblr und die Serien-Fandoms.
Die Autorin schafft es, mit psychologischem Feingefühl und Witz Identitätsfindung zu schildern und Normalität zu hinterfragen.
In (zweimal) nur drei Worten: Was ist normal? Alles und nichts!
Mädchenmeute
Kirsten Fuchs (Text)
Altersempfehlung des Verlages: ab 14 Jahren
Jurybegründung
Ein Abenteuerbuch mit weiblichen Protagonistinnen, das hat in der Jugendliteratur Seltenheitswert. Hier erleben wir sieben Mädchen, die sich bei einem Sommercamp im Wald begegnen. Doch das Camp
erweist sich als dubiose Angelegenheit und die Gruppe beschließt, auf eigene Faust Abenteuerurlaub zu machen. Mit ihrer Ich-Erzählerin, der 15-jährigen Charlotte Nowak, führt Kirsten Fuchs in die
Wälder des Erzgebirges, eine Kulturlandschaft mit eigenen Geschichten. Sagengestalten werden lebendig, die Mädchen erleben Grusel und reale Ängste, Gemeinschaft und Auseinandersetzungen. Fuchs
erzählt ihre Geschichte dramaturgisch geschickt in einer knappen, in Bildern und Konstruktion sehr lebendigen Sprache. Ein großer Reiz des Buches liegt in der unterschiedlichen Charakterisierung
der sieben Figuren. Es sind Typen, die jeder kennt, doch arbeitet die Autorin ohne gängige Rollenklischees. Und Charlotte, die anfangs schrecklich Schüchterne, wächst schließlich über sich
hinaus. Selbstironie und Humor sowie mit fortschreitender Handlung auch zunehmende Reflexion gibt die Autorin ihrer Hauptfigur mit und gestaltet auch dadurch einen großartigen
Spannungsbogen.
Mädchenmeute ist ein komplexes literarisches Werk mit großer erzählerischer Kraft in seiner Sprache und seinem Bildreichtum. Die Robinsonade in einer bisher unerzählten Landschaft lädt
ein zum Nachdenken über viele Themen: über Freundschaft, über die eigene Rolle innerhalb einer sozialen Gruppe, darüber, was Freiheit ist.
Letztendlich sind wir dem Universum egal
David Levithan (Text)
Aus dem Englischen von Martina Tichy
Altersempfehlung des Verlages: ab 14 Jahren
Jurybegründung
Schneeriese
Susan Kreller (Text)
Altersempfehlung des Verlages: ab 12 Jahren
Jurybegründung
Wie wird aus Freundschaft Liebe und was ist, wenn sich nur bei einem der Beteiligten die Empfindung verändert? Susan Kreller erzählt von Adrian und Stella, die als Nachbarn ihre Kindheit miteinander verbracht haben und deren Beziehung sich im Chaos der Pubertät neu ordnet. Denn Stella verliebt sich auf einmal in einen anderen Jungen, Adrian aber entdeckt, dass er Stella liebt. Wie sich die Beziehung wandelt, welche Bedeutung zuvor die Freundschaft der beiden hatte, beschreibt die Autorin mit großer Klarheit und bleibt ganz bei ihrem Protagonisten.
Wie Kay in der Schneekönigin wird Adrian erfüllt von Hass und Kälte. Intertextuelle Bezüge zu Andersens Märchen sind schon im Titel bestimmendes Gestaltungs-element dieses Romans, der von einem überaus kunstvollen Umgang mit Sprache zeugt und reich an ungewöhnlichen Metaphern und Wortschöpfungen ist. Die Figuren, auch die erwachsenen, sind plastisch und plausibel charakterisiert, vor allem aber Adrian, der Riese, der wächst und wächst. Mit ihm schafft Kreller einen „Helden“, der nicht darunter leidet, zu klein zu sein. Vielmehr ist Adrian eine Identifikationsfigur für alle, die sich in der Pubertät vom Äußeren her als zu groß empfinden, innerlich aber noch „Größe“ entwickeln müssen. Wie er diese Kämpfe letztendlich besteht, ist sehr klar und berührend geschildert.Wunder
Raquel J. Palacio (Text)
Aus dem Englischen von André Mumot
Altersempfehlung des Verlages: ab 12 Jahren
Jurybegründung
„Ich heiße übrigens August. Ich werde nicht beschreiben wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer.“
Wann immer August, genannt Auggie, aus dem Haus geht, begegnen ihm entsetzte oder mitleidige Blicke. Kleine Kinder haben Angst vor ihm, man tuschelt hinter seinem Rücken. Deshalb hat er die
Öffentlichkeit bisher gemieden. Doch nun, mit zehn Jahren, soll er endlich die Schule besuchen.
Auch dort begegnet man ihm mit Abscheu, niemand möchte mit ihm zu tun haben. Doch er findet zwei Freunde, Summer und Jack, auf die er sich scheinbar verlassen kann. Allerdings macht die
Freundschaft mit Auggie auch diese beiden zu Außenseitern, womit sie unterschiedlich umgehen. August kämpft um Anerkennung – unterstützt von seinen neuen Freunden und seiner Familie.
Dieses Buch begeistert alle Altersgruppen. Das oft genutzte Motiv, dass es auf die inneren Werte ankommt, wird hier neu und ohne mahnenden Zeigefinger umgesetzt. Durch wechselnde Perspektiven
kann der Leser nicht nur die Gefühle und Handlungen Auggies, sondern auch die seines Umfeldes verstehen. Der Leser entwickelt sich mit den sympathischen Charakteren. Die flüssige Sprache und die
zahlreichen Details lassen die Geschichte persönlich und lebensnah wirken. Der Roman berührt den Leser und regt zum Nachdenken an.
Wie ein unsichtbares Band
Inés Garland (Text)
Aus dem Spanischen von Ilse Layer
Altersempfehlung des Verlages: ab 14 Jahren
Jurybegründung
Durch diese Erzählweise gewinnt der Text ein hohes Maß an Spannung und Eindringlichkeit.
Das Schicksal ist ein mieser Verräter
John Green (Text)
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz
Altersempfehlung des Verlages: ab 13 Jahren
Jurybegründung
„Ich bin eine Bombe (...) Und deshalb halte ich mich lieber fern von allen, lese Bücher, denke nach und hänge mit euch rum, weil ich nichts dagegen machen kann, dass ich euch mit ins Unglück
reiße. (…) ich kann kein normaler Teenager sein, weil ich eine Bombe bin.“
Zunächst könnte man meinen, Das Schicksal ist ein mieser Verräter sei ein deprimierendes Buch. Aber das stimmt nicht. Es ist ein Buch, das den Leser gleichzeitig zum Lachen wie zum Weinen
bringt und zum Nachdenken anregt. Die ironische, fast schon sarkastische Art, wie Green die beiden Hauptpersonen, die 16-jährige Hazel und den 17-jährigen Augustus, mit ihrer Krebserkrankung
umgehen lässt – jeden auf seine ganz eigene Weise –, ist bewundernswert erfrischend.
Trotz der humorvollen Herangehensweise verharmlost das Buch die Krankheit nicht. Die Geschichte wirkt authentisch, besonders durch die Beschreibung des Alltags, der geprägt ist von der Krankheit
sowie von ganz normalen Sorgen Heranwachsender. Die Protagonisten wachsen dem Leser ans Herz. Und obwohl es für die meisten unvorstellbar ist, in ihrer Situation zu sein, fühlt, leidet, kämpft
und liebt man mit ihnen. Am Ende versteht man, welch starke Kraft die Liebe selbst in einer ausweglos erscheinenden Situation entwickeln kann. Ein Buch, das Mut macht!
Abzählen
Tamta Melaschwili (Text)
Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani
Altersempfehlung des Verlages: ab 16 Jahren
Jurybegründung
Abzählen ist ein Roman über den Krieg, in dem kein einziger Schuss fällt, und doch offenbaren sich die Schrecken in schmerzhafter Deutlichkeit, denn es geht um die so genannte
Zivilbevölkerung, also die Kinder, Frauen und die Alten. Obwohl der russisch-georgische Krieg erkennbar den Erfahrungshintergrund bildet, bleibt die erzählte Welt in geografischer und
historischer Hinsicht unbestimmt. In einem atemlosen, bisweilen geradezu stakkatohaften Rhythmus schildert der Roman drei Tage im Leben zweier 13-jähriger Mädchen, und lässt sie als Erzählstimmen
zu Wort kommen.
Die Aufregungen der Pubertät und die Schrecken des Krieges liegen in diesem Text nah beieinander. Während Mütter um ihre gefallenen Söhne trauern, flirten die Mädchen mit Wachposten und probieren
die ersten Zigaretten. Materielle Not treibt die Freundinnen zu immer gefährlicheren Abenteuern, bis sie irgendwann Drogen in Pilzkörben schmuggeln.
Der Roman wird im Präsens erzählt und vorwiegend in wörtlicher Rede, ohne Anführungszeichen und durch extrem verknappte Inquitformeln eingeleitet („sagt Ninzo:“; „sage ich:“). Dass die
eigentliche Erzählinstanz, das „Ich“ des Textes, den Erzählzeitraum nicht überlebt hat, erfährt der Leser erst am Ende.
Vom Ende der Erzählung her wird auch die zeitliche Abfolge des Geschehens verständlich. Es ist eine Geschichte, die auf ein schreckliches Ereignis hin erzählt wird. Die Kapitel bilden kein
zeitliches Kontinuum, sie sind eher wie Motivketten strukturiert, lassen Szenen Gestalt annehmen, so wie sie in der Erinnerung oder einem Traum aufblitzen könnten, isoliert und erst nachträglich
in eine zeitliche Ordnung gebracht.
Diese Erzählweise ist weit davon entfernt, den Leser oder die Leserin emotional zu überrumpeln. Vielmehr ermöglicht sie Teilhabe an der Rekonstruktion von Vorkommnissen, die konventionelle
Sprache und konventionelles Erzählen gar nicht abbilden könnten. Sie entwirft ein Gegenmodell zum allabendlichen Abstumpfungsritual der Fernsehberichterstattung.
Ein Romandebüt von großer emotionaler Wucht und verstörender Authentizität, dem man, obwohl es nicht ausdrücklich an junge Leser adressiert ist, eine intensive Rezeption im jugendliterarischen
Kontext wünschen möchte.
Sieben Minuten nach Mitternacht
Patrick Ness (Text)
Jim Kay (Illustration)
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Altersempfehlung des Verlages: ab 11 Jahren
Jurybegründung
"Das Monster tauchte kurz nach Mitternacht auf. Wie das bei Monstern eben üblich ist.“
Der 13-jährige Conor O'Malley hat keine Angst vor dem Monster. Er fürchtet sich vielmehr vor dem Alptraum, den er in letzter Zeit ziemlich oft träumt...
Conors Mutter ist krank. Als sie wieder ins Krankenhaus muss, soll Conor so lange bei seiner Großmutter wohnen. Doch er will nicht, dass sie ihm hilft. Er will nicht, dass ihm überhaupt jemand
hilft. Auch nicht das Monster, das ihm drei Geschichten vom wahren Leben erzählt. Bis es ihn auffordert, eine eigene, vierte Geschichte zu erzählen und die Wahrheit endlich auszusprechen.
Sieben Minuten nach Mitternacht ist ein unglaublich beeindruckendes Buch. Es handelt von der Verschlossenheit und Zerbrechlichkeit eines Jungen, der einen möglichen Verlust nicht
akzeptieren will. Patrick Ness erschafft mächtige sprachliche Bilder, wie das Monster, und Jim Kay liefert wundervolle Illustrationen. Dadurch entsteht eine perfekte Atmosphäre und Umgebung für
diese traurige, berührende, teilweise aber auch unterhaltsame Geschichte.
Es war einmal Indianerland
Nils Mohl (Text)
Altersempfehlung des Verlages: ab 16 Jahren
Jurybegründung
Der Ich-Erzähler versetzt den Leser in die Tristesse einer fiktiven Hamburger Vorstadt-Siedlung: Ein Mitbewohner des schäbigen Mietshauses hat seine Frau getötet und zwei Tage neben der Leiche
kampiert, bevor er von seinem Sohn, Mauser, gefunden wurde. Dass dieser eins ist mit dem Ich-Erzähler, erschließt sich dem Leser erst spät. Am Ende werden sich diese vorgeblich zwei Figuren in
einer Engführung der Erzählung zu einer Einheit ineinander schieben. Doch vorher müssen knapp zwei ereignisreiche Wochen vergehen.
Für die Zeichnung des Ich-Erzählers wählt Mohl die assoziationsreiche Figur des Boxers mit ihren Topoi vom ehrlichen, harten Kämpfer mit Herz. Er steht zwischen zwei Frauen, nämlich zwischen der
verwöhnt-reichen Jackie, rein äußerlich seine Traumfrau, Affären nicht abgeneigt, aber zur Liebe wahrscheinlich gar nicht fähig, und der bodenständigen, füllig-sinnlichen Edda. Sie ist es, die
die Kalamitäten der Adoleszenz auf den Punkt bringt: „Du bist 17, es ist dein Recht, dich von der Welt nicht verstanden zu fühlen.“
Mohls in raffinierten Zeitsprüngen konstruierte Erzählung lebt unter anderem von dem konzisen Einsatz filmischer Gestaltungsmittel, wie schnelle Schnitte, Vor- und Rückblenden – typographisch mit
den Zeichen für die Vor- und Rückspultasten von DVD-Playern markiert –, die den Leser immer wieder in einen anderen Kontext katapultieren. Die gesamte Handlung in ihrer chronologischen Abfolge
fügt sich erst am Ende des Romans zu einem vollständigen Bild. Das ist literarisch anspruchsvoll und verlangt genaues Lesen.
Auch die Sprache des Romans will genau erfasst werden: Mohl versteht es, Ellipsen und Parataxen an den richtigen Stellen mit Nebensatzkonstruktionen zu versehen. Ausgiebig nutzt er Parenthesen
und Einschübe für eine zweite Textebene, die man zum einen wie Drehbuch-anweisungen lesen kann oder die ein anderes Mal der Atmosphäre erst ihre gänzliche Fülle verleihen. Dabei erweist sich Mohl
als ein Meister des Erzählens für alle Sinne: Der Leser riecht das Chlor des Schwimmbades, empfindet die drückende Hitze eines wolkenlosen Sonnentages, sieht die Stadtansichten leibhaftig vor
sich, hört den Lärm eines Open-Air-Festivals mit seinen unterschiedlichen Geräuschkulissen am Tag und in der Nacht. Viel zum dichten Flair des Romans trägt der kreative Umgang mit sprachlichen
Bildern und Vergleichen bei, die Eskalation bekannter Redewendungen wenn zum Beispiel aus regnenden Katzen und Hunden Säbelzahntiger und Dobermänner werden, und schließlich der sichere Einsatz
von filmischen Motiven aus Western und Indianerfilmen.
Es war einmal Indianerland ist ein kunstvoll gebauter Roman, der mit seinen zahlreichen Neologismen auch sprachlich innovativ und überzeugend ist. Er bietet dem Leser eine neue und
aufregende Variante aus Bildungsroman und Liebesgeschichte. Mohl gelingt es, anspruchsvolles literarisches Erzählen thematisch dicht bei seinen jugendlichen Lesern zu realisieren – und das mit
viel Herz und Ohr für seine Adressaten.
Erebos
Ursula Poznanski (Text)
Altersempfehlung des Verlages: ab 11 Jahren
Jurybegründung
Nick liebt Computerspiele. Das momentan beliebteste Spiel an seiner Schule ist Erebos. Als fiktive Spielfigur taucht Nick völlig in die virtuelle Phantasiewelt ein. Doch Erebos ist nicht nur ein
Spiel. Erebos befiehlt Jugendlichen, Aufträge in der Realität zu erfüllen und einander zu überwachen. Erebos hat ein Ziel: Es will töten.
Der Leser begleitet Nick in die Welt von Erebos und erlebt, wie leicht ein Spiel manipulieren und einen selbst von Grund auf verändern kann. Es gibt viele Geheimnisse um Erebos, die dem Leser
Spannung bis zur letzten Seite versprechen. Gebannt verfolgt man die Entwicklung des Protagonisten und rätselt mit ihm, wer hinter welcher Spielfigur steckt und welchen größeren Sinn seine
Aufträge haben. Erebos begeistert durch seine geniale und detailreiche Ausarbeitung und die aktuelle Thematik. Der Einfluss von Medien auf Jugendliche stellt den Leser nicht zuletzt vor
die Frage, wie weit er selbst für ein Spiel gehen würde.
Tschick
Wolfgang Herrndorf (Text)
Altersempfehlung des Verlages: ab 13 Jahren
Jurybegründung
Die Tribute von Panem
Suzanne Collins (Text)
Tödliche Spiele
Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister und Peter Klöss
Altersempfehlung des Verlages: ab 14 Jahren
Jurybegründung
Jedes Jahr in der Arena von Panem: ein Kampf um Leben und Tod. 12 Mädchen. 12 Jungen. Nur einer darf überleben. Gebannt beobachtet das Volk alles auf den Bildschirmen. Die Wetten laufen.
Einfach aber packend erzählt Suzanne Collins in ihrem Roman eine dramatische Liebesgeschichte zwischen Katniss und Peeta, die sich in der Arena gegenüberstehen. Durch die Ich-Perspektive
identifiziert sich der Leser mit der weiblichen Hauptfigur. Weder sie noch der Leser wissen, welche Rolle sie in der fiktiven Gesellschaft einnimmt oder einnehmen sollte. Brandaktuelle Fragen
entflammen im Kopf des Lesers: Wie abhängig bin ich in der Mediengesellschaft von meinem Bild in der Öffentlichkeit? Wie kann ich ich selbst bleiben ohne mich im Surrealen zu verlieren? Wie
erschreckend ähnlich ist die fiktive Gesellschaft Panems schon der unseren? Am Ende weiß keiner, welche Auswirkungen die „gespielte“ Liebesgeschichte haben wird und welche Auswirkungen die Medien
auf unsere Zukunft haben werden.